Ein Klavier, das schon im verstimmten Zustand den Hinweis auf einen geradezu unverschämt starken Bass abliefert, verdient es, genauer betrachtet zu werden. Was fällt Ihnen beim Blick auf das Innenleben auf? Richtig, es ist bereits ein moderner Kreuzsaiter, bei dem sich Bass- und Diskantsaiten überkreuzen, und die Mechanik hat bereits die so genannte Unterdämpfung, bei der der Dämpfer unterhalb des Hammers positioniert ist. Was fällt Ihnen noch auf?
Nun, vermutlich ist Ihnen nichts weiter aufgefallen. Denn die Besonderheit ist eine Rarität. Auf dem folgenden Bild habe ich den Leerraum über dem Stimmstock farblich hervorgehoben. Warum hat Johann Christoph Neupert das Klavier so konstruiert? Hat man versehentlich das Möbel um das Klavier herum zu hoch geplant? Oder handelt es sich um ein Schummelklavier, das von außen betrachtet mehr Höhe vorgibt, als es tatsächlich hat? Oder ist der Leerraum eine besondere Idee, die diesen wunderbaren Bass ermöglicht? Denn am Basssteg selbst ist keine Besonderheit zu erkennen. Wir wissen es nicht.
Der Blick unter den Spieltisch zeigt zum einen, dass der gebürtige Oberfranke tatsächlich keine Bassbrücke verwendet hat, um konstruktiv den Bass zu optimieren. Der Blick auf den Resonanzboden zeigt, dass das Piano sehr gut erhalten ist, denn es sind keine Risse zu sehen. Ferner sieht man etwas, das heute kaum noch bei einem Klavier zu finden ist: Die Saiten in der Mittellage und im Diskant sind alle einzeln unten in der Gussplatte aufgehängt. Das erfordert viel Handarbeit, die man heute aus Kostengründen minimiert.
Oben ziert das Firmenlogo die Gussplatte. Von einem Logo spricht man im Marketing. Ein derartiges Logo wirkt auf mich jedoch eher wie das Wappen eines stolzen und selbstbewussten Klavierbauers.
Eine weitere heute nicht mehr zu findende Besonderheit, die früher zum Standard gehörte, ist der kleine Zusatzdämpfer, der im Übergang von der Mittellage zum Diskant die aufgrund der Überkreuzung der Saiten fehlende Dämpferfläche des letzten Tons in der Mittellage ausgleichen soll.
Bleiben wir in der oberen Region, so entdecken wir rechts auf der Gussplatte die Seriennummer. Ein Blick in den Atlas der Pianonummern verrät uns, unser Klavier 1913 gebaut worden ist. Es handelt sich als schon wieder um ein über 100 Jahre altes Klavier, das es ohne Reparatur und Generalüberholung geschafft hat, nicht nur so alt zu werden, sondern heute immer noch mit den Originalsaiten und der Originalmechanik gespielt zu werden. Dauerhaftigkeit ist der beste Beweis hoher Handwerkskunst!
Doch auch hier erwartet uns eine Besonderheit. Schauen Sie noch einmal das Bild über dem Text an. Fällt Ihnen etwas auf?
Nein, vermutlich nicht. Denn auch das ist eine Rarität: Die Diskantspreize ist durchbrochen, damit der Druckstab über den Saiten am Übergang vom Stimmstock zur so genannten klingenden Saitenlänge nicht geteilt werden muss, sondern in einem Stück durchgehen kann. Ob das einen Vorteil bringt? Vermutlich nicht. Aber es zeigt, dass Johann Christop Neupert sich seine eigenen Gedanken zur Klavierkonstruktion gemacht hat. Und er besaß auch den Mut, seine Ideen zu realisieren. Die meisten anderen Klavierbauer begnügten sich mit der Kopie in einer Zeit, als das Kopieren in Deutschland noch hoch im Kurs stand. Das beweist die Geschichte vom Made in Germany.